* 33 *
Merrin beobachtete das Drachenboot durch sein Fernrohr. Er hatte das Fernrohr bei einem seiner einsamen Streifzüge durch die Marschen halb begraben in einem Braunlingbau gefunden, Tante Zelda aber nichts davon erzählt. Er hatte gern Geheimnisse vor Tante Zelda, obwohl sie nie sehr lange geheim blieben, weil sie alles herauskriegte. Diesmal aber, so glaubte er, war sie bestimmt noch nicht dahintergekommen, denn er hatte das Glas unter einer Steinplatte auf dem Grashügel neben dem Hundert-Fuß-Loch versteckt. Er wusste, dass nichts passieren konnte, solange Tante Zelda ihn nicht mit dem Fernrohr in der Hand erwischte, denn sie konnte den tiefen Morast, der den Hügel umgab, nicht durchqueren. Nur er war leicht und wendig genug, um über die Trittsteine zu hüpfen, die dicht unter der Oberfläche des Schlamms verborgen lagen.
Merrin vermutete, dass das Fernrohr seinem alten Meister DomDaniel gehört hatte, und er vermutete richtig. Die Schwarze Magie, die ihm noch anhaftete, erinnerte Merrin an alte Zeiten. Es mochten keine glücklichen Zeiten gewesen sein, aber wenigstens waren sie interessant gewesen, und er hatte nicht mit einer lästigen alten Hexe und Bergen von Kohl in einer stinkenden Marsch am Ende der Welt festgesessen. Er hob das Fernrohr ans Auge, wobei er sorgsam darauf achtete, dass die Sonne sich nicht darin spiegelte und seinen Standort verriet, und grinste bei dem Gedanken, dass er noch lebte und DomDaniel nur noch ein Haufen Knochen war, blank genagt von Marschbraunlingen. Geschieht ihm ganz recht, dachte Merrin schadenfroh. Der alte Schwarzkünstler hätte zu ihm, seinem treuen Lehrling, nicht so gemein sein dürfen.
Es war jetzt später Nachmittag, und da tags zuvor Neumond gewesen war, ließ die Springflut die Kanäle in den Marschen randvoll laufen. Merrins Hügel war mittlerweile vollständig von schwarzem, torfigem Wasser umgeben. Das Marschland lag still in der Nachmittagshitze, und Merrin fläzte im Gras auf dem Hügel. Er hatte den ganzen Nachmittag das Kommen und Gehen zwischen Hütte und Drachenboot beobachtet, konnte sich aber keinen Reim darauf machen. Tante Zelda, die sonst immer alles besser wusste, wirkte irgendwie ratlos und strich traurig um das Drachenboot herum, während die Prinzessin und der Raufbold den Mast aufgestellt und sich mit ihr unterhalten hatten. Dieser Septimus Heap war schon eine halbe Ewigkeit auf dem Boot, was Merrin sehr ärgerte, denn er hatte das nie gedurft. Er versuchte dahinterzukommen, was Septimus tat, aber soweit er erkennen konnte, stand er nur da und glotzte auf die Ruderpinne, während der Raufbold vom Ufer aus auf ihn einredete. Kohlköpfe, dachte Merrin.
»Kopf hoch, Sep«, sagte Nicko gerade. »Du bist doch schon einmal mit ihm geflogen, also kannst du es wieder. Ist doch ein Kinderspiel.«
»Aber ich weiß nicht, was ich getan habe, Nicko. Eigentlich habe ich überhaupt nichts getan. Das Boot hat alles selbst gemacht.« Septimus starrte immer noch auf die Ruderpinne. Er hatte Angst davor, sie anzufassen. Beim letzten Mal, als er die Hand auf das sanft geschwungene Stück Mahagoni gelegt hatte, war das Drachenboot zum Leben erwacht und losgesegelt.
»Außerdem«, hob Nicko hervor, »trägst du diesmal den Drachenring. Den hattest du damals nicht, deshalb wird es nun wahrscheinlich sogar einfacher. Boote fliegen ist ein Klacks.«
Septimus betrachtete den Drachenring. Er liebte den Ring, aber jetzt wäre es ihm lieber gewesen, er hätte ihn nicht gehabt. Warum hatte ausgerechnet er der neue Drachenmeister werden müssen? Warum nicht Nicko, der sich mit Booten auskannte?
»Nun mach schon, Septimus«, schallte Tante Zeldas Stimme vom Ufer herüber. »Manchmal gibt es Dinge, die muss man einfach tun. Ich möchte das Drachenboot nicht fortlassen, und du willst es mir nicht wegnehmen. Aber ich muss es fortlassen, und du musst es fortbringen, so ist das nun mal. Es muss dorthin, wo es hin will. Und wo es in Sicherheit ist. So ist es das Beste.«
Septimus schaute von der Ruderpinne auf. »Aber was wirst du denn ohne das Boot anfangen?«
»Ich werde Wolfsjunge gesund pflegen und ein Auge auf den missratenen Burschen haben, der da draußen beim Hundert-Fuß-Loch auf der Lauer liegt und sich einbildet, ich könnte ihn und das verflixte Fernrohr, das er gefunden hat, nicht sehen.«
»409 soll hier bleiben? Bei diesem grässlichen Lehrling?«
»Wolfsjunge ist zu krank zum Reisen. Und Merrin wird nicht mehr lange hier bleiben. Ich habe die Absicht, ihn bald zu seiner Mutter zu bringen.«
»Seiner Mutter? Er hat eine Mutter?« Septimus machte ein erstauntes Gesicht.
Tante Zelda lächelte. »Ja, ich glaube, selbst Merrin hat eine Mutter. Und ich vermute, dass es eure ehemalige Wirtin ist.«
»Wirtin?«
»Bei der ihr in Port abgestiegen seid.«
»Eine von den Hexen? Oh, das passt. Ich wette, es ist diese Giftnudel Veronika. Jetzt, wo du es sagst, fällt mir auf, dass sie ihm sogar ähnlich sieht.«
Tante Zelda schüttelte den Kopf. »Ob du’s glaubst oder nicht, ich denke, es ist Schwester Meredith.«
»Oh weh! All die toten Babys. Die ist ja noch schlimmer als eine Hexe. Und wann willst du ihn ins Puppenhaus bringen?«
»Sobald Wolfsjunges Fieber gesunken ist und ich ihn einen Tag allein lassen kann. Seine Verbrennungen verheilen nur sehr langsam, denn sie sind stark mit Schwarzer Magie verunreinigt. Ich werde noch eine Menge frischen Marschgiftling brauchen.«
Septimus blickte besorgt. »Aber er wird doch wieder gesund, oder?«
»Aber ja. Ich bringe ihn zu euch, sobald es ihm besser geht.«
»Wie, du willst in die Burg kommen?« Septimus war überrascht.
»Hier hält mich ja nichts mehr«, antwortete Tante Zelda entschieden. »Und bekanntlich statten Hüterinnen der Burg hin und wieder einen Besuch ab. Marcia wird mich sicher gern aufnehmen, nachdem sie wochenlang bei mir gewohnt hat.«
Septimus musste grinsen, als er sich Tante Zelda in Marcias Gemächern vorstellte.
»Es ist besser so«, sagte Tante Zelda, als sie sein Grinsen sah.
Zehn Minuten später hatte sich Septimus von Wolfsjunge verabschiedet und ihm versprochen, dass sie sich bald wiedersehen würden. Wolfsjunge hatte ihn schwach angelächelt und erwidert: »Nicht, wenn ich dich zuerst sehe.« Dann hatte er die Augen geschlossen und war eingeschlafen, und Septimus war auf Zehenspitzen aus der Hütte geschlichen. Feuerspei hatte er sicher in einem drachenfesten Beutel verstaut, den Tante Zelda irgendwo für ihn ausgekramt hatte. Der kleine Drache schlief schon den ganzen Tag, und Septimus wollte auf keinen Fall, dass er ausgerechnet dann aufwachte und ihm den Nerv tötete, wenn er gerade versuchte, das Drachenboot zu fliegen.
Jetzt war Feuerspei in einem Kasten neben der Ruderpinne untergebracht, und Septimus, Jenna und Nicko standen abflugbereit an Deck des Drachenbootes. Tante Zelda schielte nervös zu einer kleinen grauen Wolke, die direkt über der Hütte am Himmel stand. Die Wolke war herbeigeschwebt, als sie das Drachenboot klargemacht hatten, und das war ihr gleich merkwürdig vorgekommen, denn sie hatte sich von Nordosten genähert, und Tante Zelda war sicher, dass sie heute Westwind hatten. Zelda war besorgt. Seit einer geschlagenen halben Stunde hatte sich die Wolke nicht vom Fleck gerührt, und das war für eine Wolke nicht normal.
Doch das Drachenboot war bereit. Es wurde Zeit zum Aufbruch.
»Jenna«, sagte Tante Zelda, »ich habe etwas für dich.« Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und legte etwas in Jennas ausgestreckte Hand. »Das ist der Schlüssel zum Königinnengemach im Palast. Du ... du wirst ihn vielleicht brauchen.«
Es war ein schwerer goldener Schlüssel, in dessen Griff ein runder Smaragd eingesetzt war, der Jenna an die Augen des Drachen erinnerte. Jenna war verwirrt. Sie hatte alle Winkel des Palastes erforscht, seit sie mit Sarah und Silas dort eingezogen war, aber von einem Königinnengemach wusste sie nichts.
»Aber wo ist denn dieses Königinnengemach?«, fragte sie.
»Äh, das kann ich dir nicht sagen, Jenna. Aber du wirst es schon finden, wenn die Zeit gekommen ist. Sei unbesorgt.«
»Und wann wird das sein?«, fragte Jenna.
»Wenn du die Junge Königin wirst«, lautete Tante Zeldas wenig hilfreiche Antwort.
»Ah ja ... Danke. Es ist ein schöner Schlüssel.«
Tante Zelda trat vom Boot zurück. »So, genug getrödelt«, sagte sie eine Spur zu munter. »Fliegt endlich los.« Sie schielte abermals zu der Wolke, die einen kleinen Schatten auf den Bug warf.
»Fahrt auf dem Mott ein Stück zurück«, rief sie, »so weit von der Brücke weg, wie ihr könnt. Das Boot muss vor dem Abheben Schwung holen.«
»In Ordnung, Tante Zelda«, rief der Drachenmeister.
»Und denkt daran, immer nach Norden, weg von der Sonne.«
»Ja, Tante Zelda.«
»Und fliegt um Himmels willen nicht zu schnell, wenn es nicht unbedingt nötig ist.«
»Nein, Tante Zelda.«
»Und fliegt nicht die ganze Strecke bis zur Burg, sonst wird das Boot müde. Geht runter, wenn ihr zum Fluss kommt.«
»Wird gemacht, Tante Zelda, keine Sorge.«
»Und ...«
»Ja, Tante Zelda, wir passen auf uns auf. Wirklich.«
»Ja, entschuldigt. Das weiß ich.« Tante Zelda trat noch weiter zurück und ließ den Blick über den glänzenden goldenen Rumpf und den schillernden grünen Kopf und Schwanz des Drachen gleiten. Sie prägte sich dieses Bild ein, damit sie es sich an den vor ihr liegenden einsamen Tagen jederzeit genau in Erinnerung rufen konnte.
Septimus holte tief Luft und blickte zu Nicko. »Fertig?«, fragte er.
Nicko grinste. »Aye, aye, Käpt’n.«
»Ist der Drache bereit, Jenna?«
Jenna stand vorn im Bug und hatte die Arme um den Hals des Drachen geschlungen. Sie flüsterte ihm etwas zu, dann reckte sie beide Daumen nach oben. Septimus bekam Herzklopfen. Jetzt wurde es ernst. Zeit zu starten. Nervös legte er die rechte Hand auf die Ruderpinne.
Der Drache wandte den Kopf und richtete seine smaragdgrünen Augen auf die kleine Gestalt am Ruder. Er erkannte den Jungen wieder. Er war derselbe, der ihn aus seinem unterirdischen Gefängnis befreit hatte. Er sah jetzt etwas anders aus. Er trug nicht mehr diesen hübschen roten Hut. Außerdem war er größer, irgendwie kräftiger, und es gingen stärkere Zauberkräfte von ihm aus. Aber es war noch derselbe Junge, immer noch etwas schüchtern und ängstlich darauf bedacht, ja alles richtig zu machen. Der Drache war zufrieden. Er würde ihn ans gewünschte Ziel bringen.
Septimus sah dem Drachen in die Augen, ohne zu ahnen, dass er soeben eine Prüfung bestanden hatte. Seine Hand war schweißnass, als er die Pinne umklammerte. Er überlegte, was nun zu tun war.
»Der Drache will wissen, wohin du ihn bringst«, rief Jenna plötzlich.
»Sag ihm«, antwortete Septimus, »sag ihm, dass ich ihn dorthin bringe, wo er hin möchte. Ich bringe ihn in die Burg.«
Der Drache nickte. Langsam drehte er den Kopf, bis seine schimmernden grünen Augen auf Tante Zelda ruhten, dann senkte sich der mächtige Hals immer tiefer, bis der Kopf im Gras zu Tante Zeldas Füßen lag. Tante Zelda kniete nieder und legte die Arme um den großen Kopf.
»Gute Reise, mein Freund», flüsterte sie mit Tränen in den Augen. »Wir werden uns Wiedersehen.«
Tante Zelda zog sich bis zur Tür der Hütte zurück, und das Drachenboot setzte sich in Bewegung. Die Flut hatte ihren Höhepunkt erreicht, und der Mott war bis zum Rand mit dunkelbraunem brackigem Wasser gefüllt. Das große Boot lag eingezwängt zwischen den mit Gras bewachsenen Ufern, aber es schwamm frei, und unter lautem Knarzen glitt es nach hinten durch den schmalen Kanal, der direkt vor der Hüterhütte ein kurzes Stück schnurgerade war. In der ersten Biegung konnte das Drachenboot nicht mehr weiterfahren und hielt an. Vor ihm lag nur eine kurze Startbahn, und der Drache maß die Strecke bis zur Brücke mit zweifelndem Blick. So wenig Platz hatte er zum Starten noch nie gehabt. Früher, als er mit Hotep-Ra noch über die sieben Ozeane fuhr, hatte er sich immer nur auf dem weiten, leeren Meer in die Lüfte erhoben, meist weil sein Meister sich an den langen Tagen auf See langweilte und einen Tempowechsel wünschte. Aber so etwas wie das hier hatte er noch nie getan.
Mit einiger Mühe spreizte der Drache die gefalteten Flügel über die Ufer hinaus und hob sie empor, bis sie den Mast weit überragten. Die grünen ledernen Schwingen, die zwei heiße Sommer und einen kalten Winter lang an seinen Längsseiten geruht hatten, waren steif und trocken, und als der Drache sie öffnete, erfüllte ein grässliches Knarzen und Ächzen die Luft, dem ein unheilvolles Knistern folgte. Septimus, Nicko und Jenna hielten sich die Ohren zu und beobachteten gespannt die Drachenschwingen, die sich mühsam streckten wie zwei große Hände nach einem langen und tiefen Schlaf. Vor Angst, die Haut zwischen den Fingern des Flügels könnte reißen, hielten alle drei den Atem an, doch als die Falten sich glätteten und die Sonne auf die glänzenden grünen Schuppen schien, konnten sie sehen, dass alles in Ordnung war und dass das Drachenboot seine Schwingen wieder stolz gen Himmel reckte.
Der Drache war bereit.
Er holte tief Luft. Die drei Besatzungsmitglieder spürten ein Zittern, als die großen Flügel zu schlagen begannen und die heiße Luft durcheinander wirbelten, so dass der Wind ihnen das Haar ins Gesicht blies. Bedächtig setzte sich das Boot in Bewegung. Die Flügel schwangen langsam und kraftvoll, senkten sich fast bis zum Boden hinab, stiegen hoch hinauf in die Luft und sammelten Kraft, und dann, mit einem gewaltigen Ruck, schnellte der Drache plötzlich nach vorn.
»Halt!«, schrie Tante Zelda aus vollem Hals. Niemand hörte sie.
Mit wild schlagenden Flügeln, den Kopf gestreckt, die Muskeln am langen Hals gespannt, schoss das Boot in einer Gischtfontäne durch den Mott, und dann, im allerletzten Moment, begleitet von einem lauten Krachen und dem Geräusch splitternden Holzes, erhob es sich in die Luft und riss einen Großteil der Brücke mit.
Das Drachenboot stieg schnell und steil in den Sommerhimmel. Und als die Trümmer der Brücke von ihm abfielen und zu Merrins Entsetzen dicht neben dem Hundert-Fuß-Loch zu Boden stürzten, drehte es ab und flog über die Marram-Marschen in Richtung Fluss.
Endlich schickte sich das Drachenboot an, seine Reise in die Burg zu vollenden.